"Macht Ihr doch mal endlich was mit den Jungen*!" so oder so ähnlich hörte sich die Forderung von Frauen*/Kolleginnen an, die sich an die Männer*/Kollegen in vielen pädagogischen Einrichtungen Mitte der achtziger Jahre richtete. Diese Forderung der Frauen*, die mit den Mädchen* aus ihrer Perspektive bewußt das Thema "Weibliche Rolle und Identität" bearbeiteten, erhöhte den Druck bei den Männern*. Als Resultat aus dieser Situation entwickelten sich die ersten theoretischen und praktischen Ansätze, die sich grundlegend dem (sozial)pädagogischen Bereich "geschlechtsspezifische Arbeit mit Jungen*" widmeten. Vielfach aber wurde diese Herausforderung von den betroffenen Männer* abgewiesen. Sie sahen weder Sinn noch Notwendigkeit (oder waren hilflos), ein bewußtes und jungenspezifischen Angebot zu unterbreiten, welches sich mit männlichen Themen und den dazugehörigen sozialen Rollenerwartungen kritisch und neu orientierend auseinandersetzte. Ihnen hatte sich in ihrer Jugend als Junge* selten ein Mann* bewußt unterstützend angeboten, um MannSein/Männlichkeit erleb- bzw. erfahrbar zu machen. "Die Jungen* werden ihren Weg schon machen!" lautete dann häufig die männliche, eher resignierende und nicht flankierende Antwort. Wenig persönliches Interesse, Abwesenheit und Kontaktschwierigkeiten kennzeichnen auch noch heute die Beziehungen zwischen vielen männlichen Mitgliedern unserer Gesellschaftskultur.
Einige (sozial)pädagogische jungenspezifische Arbeitsansätze entfalteten sich trotz der oben beschriebenen Dynamik, einige Männer* nahmen die an sie gestellte Herausforderung an. Die Energie der Ideenumsetzung konzentrierte sich - wie so häufig bei Männern zu beobachten! - auf dem Gebiet der Theorieentwicklung dieses geschlechtsspezifischen Arbeitsansatzes. Die veröffentlichte Grundlagenliteratur spiegelt dies auf das Allerdeutlichste wieder. Ihre wichtigste Erkenntnis war, dass die Männer* für die Erhaltung des derzeit herrschenden Geschlechterverhältnis (Macht & Dominanz der Männer* in den gesellschaftlichen Schlüsselpositionen) auch einen deutlichen Preis zahlen. Der konkrete Transfer in die Praxisfelder blieb verhältnismäßig unbedeutend. Erst Anfang der Neunziger veränderte sich dieses Bild, da der Druck der Jungen* in den pädagogischen und gesellschaftlichen Schnittflächen deutlich spürbar wurde. Gerne sprachen Statistiken, wenn sie Aussagen zu Krankheit, Sucht, Gewalt, Kriminalität etc. machten, von Jugendlichen. Zunehmend wurde dann deutlich, daß diese Statistiken durch die "geschlechtsspezifische Brille" eine völlig andere Interpretation erfahren mußten. Da waren plötzlich die auffälligen statistischen Spitzenreiter nicht geschlechtslose Jugendliche, sondern bei Unfällen, Selbstmorden, Krankheiten, Gewalt- und Opfererscheinungen oder "minderer" Qualität der Schulabschlüsse waren es Jungen*. Andere Statistiken sagen wiederum aus, daß Jungen* bis zu einem Alter von ca. 12 Jahren in einem von Frauen dominierten Raum (Familie, Kindergarten, Grundschule, Hort, etc.) heranwachsen und sozialisiert werden. Greifbare und authentisch erlebte männliche Identität bleibt den Jungen* in der Regel vorenthalten oder wird durch mediale Inszenierungen ersetzt, da die Männer*/Väter aus dem sozialen Nahraum häufiger abwesend sind .
Wie sollen aus Jungen* Männer* werden, wenn ihnen die sozialen (Vor)Bilder häufig fehlen bzw. z.B. sich ihre männliche Identität aus der strengen Abgrenzung des erlebten Weiblichen rekrutiert (Alles was nicht weiblich ist, ist dann männlich!?). Es bleibt ein soziales Identitätsvakuum für die Jungen* in ihrer Entwicklung zum JungeSein/MannWerden übrig, welches die pädagogische und bewußte Jungenarbeit zum Teil kompensieren sowie reflektieren kann. Inhaltliche und nachvollziehbare jungenspezifische Ansätze existieren in den (sozial)pädagogischen Arbeitsfeldern der Sexualpädagogik, der Gewaltarbeit (im Täter- und Opferbereich), der Suchtprophylaxe, der Beratungsansätze, der schulischen/außerschulischen Bildungsarbeit der Wohngruppen- und Heimkonzepte sowie identitätsbezogene Ansätze (z.B. Lebens- und Berufsplanung)
Der Schwerpunkt dieser Arbeitsansätze bezieht sich auf die Prävention und Ressourcenorientierung. Hier versucht die auch zielgruppenbezogene Jungenarbeit druckentlastend zu wirken, in dem sie die Verhaltensmöglichkeiten und soziale Handlungskompetenzen von Jungen erweitern will (Vielfältigkeitskonzept). In letzter Zeit entwickeln sich auch Konzepte, die sich mit Lösungsstrategien im nachsorgenden Bereich, z.B. Gewalt und Sucht, geschlechtsspezifisch auseinandersetzen.
Nicht jede Arbeit mit Jungen* ist gleichzeitig auch Jungenarbeit. Erst durch die gezielte, bewußte und reflektierte Aufnahme von Männlichkeit - JungeSein - MannWerden - MannSein sowie durch die Prüfung und Reflexion gesellschaftlicher Lebensbedingungen erhält sie ihre Qualität und Kraft.
Hinweis: - In der Ausgabe "Der Süddeutschen Zeitung - WISSEN" (Heft 17, Sept. 2007) widmet sich der Leitartikel dem Jungenthema: "Jetzt sind wir dran!". U.a. wurde ein Selbstbehauptungskurs von mannigfaltig für diesen Artikel besucht und dokumentiert. - In der Ausgabe der "Süddeutschen Zeitung" vom 12.02 2008 wurde ein Interview mit Bernd Drägestein in gekürzter Fassung mit dem Titel " Die neue Männlichkeit: Wann ist ein Junge ein echter Junge?" veröffentlicht. Die umfangreiche Fassung des Interviews steht Ihnen hier zur Verfügung. Ansprechpartner: Bernd Drägestein, Walter Hinz